Differenzierter Egalismus
Ich bin froh, dass ich im freien Entschluss vor ein paar Jahren aus der Kirche ausgetreten bin. Ich bin gerade jetzt – nach den Anschlägen von Paris – darüber froh, weil ich damit zu einer Gruppe weniger gehöre, für die ich meine, mich einsetzen zu müssen, wenn sie angegriffen wird, durch was oder wen auch immer. Man ergreift ja so leicht Partei für etwas, das einem wichtig ist. Es ist mir inzwischen schlicht und ergreifend egal, wer was über welche Religion sagt. Das ist gut. Wenn das so ist, nennt man das wohl pragmatischen Agnostizismus. Einfach ausgedrückt, glaube ich nicht an einen Gott, aber ich glaube auch nicht, dass es bestimmt keinen Gott gibt, wie Atheisten das tun (am Rande: Ich bin überzeugt, dass die meisten Atheisten eigentlich auch Agnostiker sind).
Ich verkenne nicht, dass der Glaube für Menschen, denen es z. B. in irgendeiner Weise schlecht geht, eine Stütze sein kann. Der Mensch lebt in schlechten Zeiten von der Hoffnung. Die Erlösung, wie auch immer die aussehen mag, kann den Menschen hilfreich sein, um die tägliche Challenge zu meistern und Kraft zu schöpfen. Zum Glück geht es mir so gut oder bin ich so aufgeklärt, dass ich das nicht nötig habe.
Seit den Gräueltaten in Paris ist in den sog. sozialen Medien richtig Stimmung. Man ist zwar einerseits irgendwie natürlich gegen Gewalt, vor allem, wenn sie aus religiösen Erwägungen heraus begangen wird, aber man hat kein Problem damit, sich teilweise übelst zu fetzen, wenn es darum geht, ob denn nun im Namen der einen oder anderen Religion irgendwann in der Menschheitsgeschichte nicht auch mal gemordet wurde, ob das vergleichbar ist oder schlimmer, weniger schlimm, irgendwie anders und überhaupt. Ruckzuck ist man bei den Kreuzzügen und „den bösen Christen“. Man ist nicht zimperlich damit, pauschal alles zu verunglimpfen, was mal als Säugling über den Rand eines Taufbeckens geschmult hat. Klar. Es sind natürlich ALLE Christen. Wenn man lange genug wühlt, gibt es wohl immer einen oder mehrere Religionsangehörige, die mal was Böses getan haben und sich dabei auf „ihren Gott“ berufen haben. Schaut euch auch mal diesen sagenhaften Comic von Pablo Stanley an, der das immer immer immer aktuelle Lied „Imagine“ von John Lennon illustriert hat.
Gerade in einer Zeit, in der die Folgen von Gewalttaten von der Gesellschaft zu meistern sind, ist es unheimlich wichtig, Augenmaß zu bewahren. Nicht alle über einen Kamm zu scheren, zu differenzieren. Und überhaupt mal genau hinzuschauen. Stimmt es überhaupt, dass die Gewalttäter im Namen des Islams als gewaltbereite Islamisten unterwegs waren, auch wenn sie das rausgebrüllt haben mögen? Oder sind es vlt. einfach geistig gestörte, traumatisierte, irrgeleitete (meist männliche) Heranwachsende*, wie sie auch als Amokläufer in Schulen in Deutschland oder Amerika rumballern (dort meist ohne Religionshintergrund)? Ich weiß es nicht. Ich glaube nur, dass es falsch ist, solche Vorfälle nur durch die Religionsbrille zu sehen, auch wenn es noch so bequem ist. Auch andere Gewalttäter haben immer wieder vorgegeben, im Sinne irgendeiner höheren Sache zu handeln und damit eine gute Sache zu kapern, die vielen, vielen Menschen eine gemeinsame Heimat in der Ausrichtung ihres Lebensmottos gibt. Was, wenn mal son Irrer statt den Namen einer Gottheit „BVF Schalke 05“ ruft, bevor er sich in die Luft sprengt? Alle Fußballfans verunglimpfen oder nur die eines gewissen Vereins? Bestimmt nicht, aber es ist auch schon nicht komisch, wenn gewaltbereite Testosteronüberproduzenten sich wegen einer Kunstlederpille an die Gurgel gehen ohne sich gleich gegenseitig umzubringen.
Ich rege daher zum differenzierten Egalismus an. Leute, denkt nach, ob ihr gerade mit der Pauschalsense die Meinung eines anderen niedermähen wollt oder ob es nicht vielleicht doch angemessen ist, etwas genauer hinzusehen. Sind die Dinge wirklich so einfach, wie sie im ersten Schein der Schwarzweißmalerei aussehen? Und, vor allem, überlegt, ob es sich nicht eher lohnt, die ganze Situation zu entschärfen, wenn man mit einem genuschelten „Machwoh’sein“ etwas Druck vom Kessel nimmt. So wichtig ist das doch alles gar nicht.
Ich sollte selbst viel öfter gelassener sein.
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*Das habe ich mir nicht allein ausgedacht, aber ich hab die Quelle vergessen.
Samstag, 10. Januar 2015 12:35
Right said Will! Thumbs up.
Samstag, 10. Januar 2015 12:43
😉 Ich habe da so ein Herzchen-Plugin als „I like“-Button. Wenn man drauf klickt, passiert genau nichts, bis auf, dass der Zähler eins hochzählt. Der Artikel wird nicht geteilt, niemand erfährt davon, dass man den geklickt hat, nicht mal ich weiß, wer das war.
Super-Egal-Like-Button. 😉
Sonntag, 11. Januar 2015 23:19
Zweifel, dass die Terroristen islamisch motiviert waren? Ich zitiere den der Islamophobie denkbar unverdächtigen Islamischen Zentralrat der Schweiz:
„Nach eigenen Angaben, seien die Brüder im Auftrag des jemenitischen Ablegers «der Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel» (AQAP) unterwegs gewesen. Dieses Selbstzeugnis erfuhr nach der gestrigen Publikation einer Audiobotschaft von Shaykh Harith an-Nathari, dem bekannten Pressesprecher der AQAP zusätzliche Glaubwürdigkeit. An-Nathari lobte die Angreifer als «Schar der muslimischen Soldaten», nannte die Verteidigung des Propheten einleitend als Motiv …“
Oder der dritte Massenmörder (der aus dem Supermarkt) wörtlich:
«Ich denke an jene, die sich mit Bashar al-Asad in Syrien schlagen mussten. Er folterte Menschen. Niemand tat etwas über die Jahre hinweg. Dann Luftangriffe, Koalition von 50 Ländern und all das. Wieso tun sie dies? Da waren Nord-Mali und Syrien. Die müssen aufhören, den «Islamischen Staat» zu attackieren und uns zu zwingen, unsere Frauen zu entschleiern sowie unsere Brüder für nichts in Gefängnisse zu sperren.»
Dürfte recht eindeutig sein.
Quelle:
http://www.izrs.ch/wie-der-westen-den-modernen-jihad-erschuf.html
(Die kruden Meinungsäußerungen in dieser Quelle mache ich mir ausdrücklich nicht zu eigen.)
Montag, 12. Januar 2015 7:43
Ja, sie berufen sich auf den Islam, folgen aber doch wohl eher einem radikalen Islamismus. Nach meinem Verständnis ist das nicht das gleiche.
Montag, 12. Januar 2015 12:28
@will
Nein, natürlich ist das nicht das Gleiche. Wenn alle Muslime Islamisten wären, wäre die Erde längst unbewohnbar. Aber es hat miteinander zu tun, und die Mörder werden in Moscheen (nicht allen!) beeinflusst und indoktriniert.
Das Christentum hatte vor ein paar hundert Jahren vergleichbar gewalttätige Züge, wurde aber durch die Aufklärung gezähmt. Beim Islam steht das noch aus. Das müssen allerdings die Muslime tun und es wird noch eine Weile dauern. Einstweilen müssen wir* uns gegen islamistische Zumutungen und dschihadistische Angriffe eben so gut verteidigen wie es geht.
*Schließt die Mehrheit der säkularen und friedlichen Muslime mit ein.
Montag, 12. Januar 2015 13:48
Noch eine kleine Ergänzung: ein guter Text dazu steht z.B. hier:
http://jungle-world.com/jungleblog/3078/