Freitag, 9. Januar 2015 21:40
Ich bin froh, dass ich im freien Entschluss vor ein paar Jahren aus der Kirche ausgetreten bin. Ich bin gerade jetzt – nach den Anschlägen von Paris – darüber froh, weil ich damit zu einer Gruppe weniger gehöre, für die ich meine, mich einsetzen zu müssen, wenn sie angegriffen wird, durch was oder wen auch immer. Man ergreift ja so leicht Partei für etwas, das einem wichtig ist. Es ist mir inzwischen schlicht und ergreifend egal, wer was über welche Religion sagt. Das ist gut. Wenn das so ist, nennt man das wohl pragmatischen Agnostizismus. Einfach ausgedrückt, glaube ich nicht an einen Gott, aber ich glaube auch nicht, dass es bestimmt keinen Gott gibt, wie Atheisten das tun (am Rande: Ich bin überzeugt, dass die meisten Atheisten eigentlich auch Agnostiker sind).
Ich verkenne nicht, dass der Glaube für Menschen, denen es z. B. in irgendeiner Weise schlecht geht, eine Stütze sein kann. Der Mensch lebt in schlechten Zeiten von der Hoffnung. Die Erlösung, wie auch immer die aussehen mag, kann den Menschen hilfreich sein, um die tägliche Challenge zu meistern und Kraft zu schöpfen. Zum Glück geht es mir so gut oder bin ich so aufgeklärt, dass ich das nicht nötig habe.
Seit den Gräueltaten in Paris ist in den sog. sozialen Medien richtig Stimmung. Man ist zwar einerseits irgendwie natürlich gegen Gewalt, vor allem, wenn sie aus religiösen Erwägungen heraus begangen wird, aber man hat kein Problem damit, sich teilweise übelst zu fetzen, wenn es darum geht, ob denn nun im Namen der einen oder anderen Religion irgendwann in der Menschheitsgeschichte nicht auch mal gemordet wurde, ob das vergleichbar ist oder schlimmer, weniger schlimm, irgendwie anders und überhaupt. Ruckzuck ist man bei den Kreuzzügen und „den bösen Christen“. Man ist nicht zimperlich damit, pauschal alles zu verunglimpfen, was mal als Säugling über den Rand eines Taufbeckens geschmult hat. Klar. Es sind natürlich ALLE Christen. Wenn man lange genug wühlt, gibt es wohl immer einen oder mehrere Religionsangehörige, die mal was Böses getan haben und sich dabei auf „ihren Gott“ berufen haben. Schaut euch auch mal diesen sagenhaften Comic von Pablo Stanley an, der das immer immer immer aktuelle Lied „Imagine“ von John Lennon illustriert hat.
Gerade in einer Zeit, in der die Folgen von Gewalttaten von der Gesellschaft zu meistern sind, ist es unheimlich wichtig, Augenmaß zu bewahren. Nicht alle über einen Kamm zu scheren, zu differenzieren. Und überhaupt mal genau hinzuschauen. Stimmt es überhaupt, dass die Gewalttäter im Namen des Islams als gewaltbereite Islamisten unterwegs waren, auch wenn sie das rausgebrüllt haben mögen? Oder sind es vlt. einfach geistig gestörte, traumatisierte, irrgeleitete (meist männliche) Heranwachsende*, wie sie auch als Amokläufer in Schulen in Deutschland oder Amerika rumballern (dort meist ohne Religionshintergrund)? Ich weiß es nicht. Ich glaube nur, dass es falsch ist, solche Vorfälle nur durch die Religionsbrille zu sehen, auch wenn es noch so bequem ist. Auch andere Gewalttäter haben immer wieder vorgegeben, im Sinne irgendeiner höheren Sache zu handeln und damit eine gute Sache zu kapern, die vielen, vielen Menschen eine gemeinsame Heimat in der Ausrichtung ihres Lebensmottos gibt. Was, wenn mal son Irrer statt den Namen einer Gottheit „BVF Schalke 05“ ruft, bevor er sich in die Luft sprengt? Alle Fußballfans verunglimpfen oder nur die eines gewissen Vereins? Bestimmt nicht, aber es ist auch schon nicht komisch, wenn gewaltbereite Testosteronüberproduzenten sich wegen einer Kunstlederpille an die Gurgel gehen ohne sich gleich gegenseitig umzubringen.
Ich rege daher zum differenzierten Egalismus an. Leute, denkt nach, ob ihr gerade mit der Pauschalsense die Meinung eines anderen niedermähen wollt oder ob es nicht vielleicht doch angemessen ist, etwas genauer hinzusehen. Sind die Dinge wirklich so einfach, wie sie im ersten Schein der Schwarzweißmalerei aussehen? Und, vor allem, überlegt, ob es sich nicht eher lohnt, die ganze Situation zu entschärfen, wenn man mit einem genuschelten „Machwoh’sein“ etwas Druck vom Kessel nimmt. So wichtig ist das doch alles gar nicht.
Ich sollte selbst viel öfter gelassener sein.
____________________________
*Das habe ich mir nicht allein ausgedacht, aber ich hab die Quelle vergessen.